Donnerstag, 21. Juni 2018

Schweizergeschichte neu denken: Der Gotthard hatte einen Vorgänger

Im Früh- und Hochmittelalter, vor der Öffnung des Gotthards, existierte eine vergessene Verbindung über die Berner Oberländer und Oberwalliser Pässe vom Thuner- und Vierwaldstättersee zum Lago Maggiore.

Schriftquellen für die Existenz dieser transalpinen Verbindung von europäischer Bedeutung aus der im Alpenraum (fast) urkundelosen Zeit des 8. bis 12. Jahrhunderts gibt es keine.

Vielmehr basiert meine These vom vergessenen Kaiserweg auf der Kombination zweier Überlegungen. Zum einen auf der geostrategischen Bedeutung der Strecke als schnellster transalpiner Verkehrs- und Kommunikationskanal zwischen den nördlichen und südlichen Kerngebieten der alpenüberspannenden früh- und hochmittelalterlichen Grossreiche der Karolinger, Ottonen, Salier und Staufer.

Und zweitens auf der Besiedelung der inneralpinen Hochtäler zwischen dem Thuner- und Vierwaldstättersee und dem Lago Maggiore durch Alamannen aus dem oberen Aareraum im 8. Jahrhundert.

Wie alles begann

Im Jahre 755 eroberte Frankenkönig Pippin die beim Zusammenfluss von Ticino und Po liegende Hauptstadt des Langobardenreiches Pavia. Damit entstand erstmals seit dem Untergang Westroms drei Jahrhunderte zuvor wieder ein alpenüberspannendes Reich. Diesmal allerdings nicht beherrscht vom Kaiser in Rom, sondern von einem König aus dem Norden.

Zum Machterhalt im neueroberten Langobardenreich, war Frankenkönig Pippin und später sein Sohn Karl der Grosse auf einen schnellen und sicheren transalpinen Verkehrs- und Kommunikationskanal von den nördlichen Kerngebieten der Karolinger am Niederrhein, Maas, Mosel und Seine in ihr oberitalienisches Verwaltungszentrum Pavia angewiesen. Pavia, muss man wissen, war damals eine ganz besondere Stadt in der sich die spätantike Stadtkultur weitgehend erhalten hatte, während Mailand und andere oberitalienische Römerstädte von den Goten und Langobarden zur Zeit der Völkerwanderung weitgehend zerstört worden waren.

Der Rest ist Geografie.


Von Pavia ticinoaufwärts liegt der Lago Maggiore. An einem Seitenzweig dieses Sees liegt Ornavasso, wo bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts noch Walliserdeutsch gesprochen wurde. Von dort gehts weiter über das heutige Domodossola und die Oberwalliser und Berner Oberländer Pässe zum Thuner- und Vierwaldstättersee.

Entweder über den Simplon ins Oberwallis und weiter über die Gemmi oder den Lötschen an den Thunersee. Oder über den Gries und andere kleinere Pässe ins Obergoms und weiter über Grimsel und Brünig an den Vierwaldstättersee.

Vom Thunersee weiter durch das Emmental, den Aargau über den Jura an den Rhein. Und vom Vierwaldstättersee reussabwärts ebenfalls an den Rhein. Und weiter rheinabwärts in die karolingischen Kerngebiete am Seine, Mosel,  Maas und Niederrhein. Nach Saint Denis, Mainz, Köln und Aachen.

Im Vergleich zum Alpentransit von Pavia über die alten Römerstrassen am Grossen Sankt Bernhard im Westen und den Septimer im Osten, hatte die Verbindung über das Oberwalliser und Berner Oberländer Passsystem zwei gewichtige Vorteile. Sie war um einiges kürzer und verlief über weite Strecken entlang schiffbarer Flüsse. Ferner konnte die Südseite direkt von Pavia aus kontrolliert werden, wo fränkische bewaffnete Kräfe stationiert waren. Während in Ivrea und Aosta  sowie auch in Mailand und Como Lokalmachthaber residierten, die den Verkehr verlangsamen, verteuern oder ganz unterbrechen konnten.

Das grosse Problem für Pippin mit der neuen Schnellstrecke von Pavia in den Norden war die fehlende Verkehrsinfrastruktur in den zuvor wahrscheinlich noch nicht dauerhaft besiedelten Hochtälern nördlich und südlich des Berner Oberländer und Oberwalliser Passsystems.

Hier kommen die Alamannen ins Spiel. Etwa drei Jahrzehnte vor Pippins Eroberung von Pavia hatte dessen älterer Bruder Karlman das alte alamannische Herzogtum besiegt. Die fränkischen Grafen Ruthard und Warin und ihre Ritter haben das eroberte Gebiet reorganisiert.  Einzelne alamannische Sippschaften verliessen dem nunmehr fränkisch beherrschten Aargau, Thurgau und Zürichgau und sickerten seit dem Untergang Westroms nur noch dünn besiedelten Voralpengebiete am oberen Aarelauf ein, dem Grenzland zwischen Alamannen und Burgundern.

Auf dem Hintergrund der historischen Tatsache, dass die Hochtäler nördlich und südlich der Berner Oberländer und Oberwalliser Pässe bis zum Lago Maggiore noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Walserdeutsch sprachen scheint plausibel, dass sich versprengten Alamannensippschaften auf der Suche nach neuen Existenzgrundlagen die nötigen Fähigkeiten zum Leben und Überleben im Hochgebirge aneigneten. Und sich das nötige Wissen und Können als Wegmacher und Säumer im Alpentransits erarbeiteten.

Wenn die These vom vergessenen Kaiserweg hinhaut, dann erfolgte die alamannische Besiedelung des Berner Oberlandes, Oberwallis und Val Toce (Eschental) bis zum Lago Maggiore nicht wie von der gängigen Mittelaltergeschichte angenommen durch langsame Rodung und Bewirtschaftung immer höherer Gebiete durch bäuerlicher Siedler im 8. und 9. Jahrhundert, sondern innert weniger Jahrzehnte nach Pippins Eroberung von Pavia durch die Einwanderung von Wegmachern und Säumern zur Organisation des Alpentransits.
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Wie es weiterging

Nach diversen Reichsteilungen unter den Söhnen und Enkeln von Karl dem Grossen im 9. Jahrhundert, folgte im 10. Jahrhundert die grosse Zeit des vergessenen Kaiserweges unter den Ottonen. 951 eroberte der Ostfrankenkönig Otto I. im Bündnis mit den Schwabenherzögen und den Burgunderkönigen das mittlerweilen von den Karolingern abgefallene Pavia. Der Ostfranke liess sich zum König von Italien krönen und machte Pavia auf den Spuren der Karolinger zu seinem Verwaltungszentrum. Er stieg gross in die italienische Politik ein, verbündete sich mit dem Papst der ihn 961 zum Kaiser des Römischen Reiches krönte. (Das Prädikat Heilig wurde erst 2. Jahrhunderte später beigefügt.)

Die ostfränkischen Neuauflage des alpenüberspannenden Karolingerreiches und Westroms gab dem vergessenen Kaiserweg von Pavia über den Lago Maggiore an den Thuner- und Vierwaldstättersee zu seine frühere geostrategische Bedeutung zurück.

Die Epoche der Ottonenkaiser war die goldene Zeit des Kaiserweges, was durch die einzigen Schriftquellen aus dem Thunerseegebiet indirekt belegt werden kann. Diese fünf Urkunden aus der Zeit kurz vor und nach 1000 liegen heute im Archiv der Abtei Saint Maurice und verbriefen Schenkungen und Verleihungen von Höfen in Kirchberg, Uetendorf, Wimmis, Oppligen, Münsigen, Bümplitz, Köniz und Schwarzenburg. Als Grundeigentümer sind Kaiser Otto III. genannt, ferner dessen Grossmutter Adelheid von Burgund, deren Bruder König Konrad III. von Burgund, sowie Konrads drei Söhne König Rudolf III. von Burgund, Erzbischof Burchhard von Lyon, auch Abt von Saint Maurice und Bischof Anselm von Aosta, auch Propst von Saint Maurice.

Warum hätten Kaiser Otto III. und die Burgunderkönige die zu den mächtigsten europäischen Herrscherdynastien ihrer Zeit gehörten im abgelegenen, machtpolitisch bedeutungslosen oberen Aareraum derart ausgedehnten Grundbesitz im unterhalten, wenn nicht zur Sicherung der Infrastruktur des Alpentransits von Basel nach Pavia?

Das Ende des vergessenen Kaiserweges

Unter den römisch-ostfränkischen Kaisern aus dem Geschlecht der Salier, welches die Ottonenkaiser ablöste, ging es mit Pavia rasch abwärts. Nachdem die Stadt den Saliern wiederholt den Treueeid verweigert hatte, wurde sie von Heinrich II. und Konrad II. zweimal stark zerstört. In der Folge verbündeten sich die Salierkaiser mit dem Erzbischof von Mailand, das Pavia bis Ende des 11. Jahrhunderts als wichtigste Stadt Oberitaliens ablöste.

Ungefähr gleichzeitig differenzierte sich der Verkehr über das Oberwalliser und Berner Oberländer Passsystem. Über den Simplon lief der wachsende Warentransit von Mailand durch das Unterwallis und den Jura zu den grossen Märkten in der Champagne. Während die Strecke Brünig-Grimsel-Gries als schnellster Kommunikationskanal zwischen Italien und den salischen Kerngebieten im Elsass, Wormsgau und Speyer am Mittelrhein von Bedeutung blieb.

Unter dem römisch-deutschen Kaisern  aus dem Geschlecht der Staufer, welches in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die römisch-ostfränkischen Salier ablöste, erlebte der vergessene Kaiserweg unter Friedrich I. den die Italiener Barbarossa nannten seine letzte Blüte. Bevor die Erschliessung der Schöllenen, bzw. die dadurch entstandene bessere Verbindung vom Lago Maggiore zum Vierwaldstättersee zu Beginn des 13. Jahrhunderts der Strecke Brünig-Grimsel-Gries schliesslich den Garaus machte. Passierbar gemacht wurde die Schöllenen durch Wegmacher und Säumer aus dem Oberwallis die über die Furka ins Urseren eingewandert waren.

In der Folge sank die Grimsel-Gries-Passage trotz einiger Wiederbelebungsversuche der Berner im 14. und 15. Jahrhundert zur reinen Regionalverbindung ab. Während der Simplon seine Bedeutung im internationalen Warenverkehr zwischen Italien, Burgund, Frankreich und England behielt.

Die Wegmacher und Säumer am vergessenen Kaiserweg wandern aus

Nachdem ihre Ahnen während einem halben Jahrtausend vom Betrieb einer bedeutenden Alptransitstrecke für die Kaiser, Könige und Kaufleute Europas gelebt hatten, zwang der rasche Niedergang Brünig-Grimsel-Gries-Passage seit Beginn des 13. Jahrhunderts einen Teil der dortigen Wegmacher und Säumer in die Emigration.

Ihr jahrhundertealtes Wissen und Können im hochalpinen Wegbau und der Säumerei nahmen diese nunmehr Walser genannten Auswanderer mit. Vom Urserental aus überwanden sie die Reusskatarakte in der Schöllenen, öffneten so den Weg vom Gotthard ins Urnerland und verstärkten damit den Auswanderungsdruck auf die im Oberwallis zurückgebliebenen. Beim heutigen Bosco Gurin besiedelten die Walser zuvor nicht ganzjährig bewohnte Alpen des Comasker Klosters Sant'Abbondio. Und einige einige Jahrzehnte später schliesslich, holte Albert III. von Sax-Misox die ersten Walser zur Verbesserung Verkehrsinfrastruktur über den damals Vogelberg geheissenen San Bernardino vom Eschental ins rätische Rheinwald.

Geschichtsschreibung im urkundelosen Früh- und Hochmittelalter

Meine These vom vergessenen Kaiserweg kann sich wie eingangs erwähnt auf keine direkten Schriftquellen stützen. Die Berner Oberländer Pässe werden urkundlich alle erst nach 1200 erwähnt. Archäologische Befunde die eine solche Strecke indirekt stützen existieren hingegen sehr wohl. Etwa die oberitalienische Bauweise eins Dutzends über tausendjähriger Kirchen rund um den Thunersee. Oder die von Jonas Glanzmann im oberen Emmental entdeckten sechs zuvor unbekannten Burgstellen, die der Hobbyarchäologe im Zusammenhang mit einer von Historikern bisher unerwähnten, frühmittelalterlichen Verkehrsroute von Solothurn und Burgdorf durch das Emmental an den Thunersee interpretiert. Auch die merowingischen Denare aus der Mitte des 8. Jahrhunderts die beim Wittnauer Horn im Fricktal am Weg von Olten über den Jura zum Rhein gefunden wurden passen zur These des vergessenen Kaiserweges.

Unter universitären Berufshistorikerinnen und Historikern geniesst die Erforschung des frühmittelalterlichen Alpentransits auf dem Gebiete der Schweiz wenig Interesse. Thomas Maissen beispielsweise lässt sein Standardwerk Geschichte der Schweiz nach einigen spärlichen Bemerkungen zur Vorgeschichte der Drei Waldstätten erst im 14. Jahrhundert beginnen. Und verweist dabei zustimmend auf den Mediävisten Bernhard Stettler, der die Berner Oberländer Pässe vor 1200 mit dem Hinweis auf mangelnde Schriftquellen als rein lokale Übergänge verkannte.

Unsereiner bleibt die Hoffnung, dass sich eine jüngere Generation von Historikerinnen und Historikern für den Alpentransit im Früh- und Hochmittelalter im Lichte der Vorgeschichte der Drei Waldstätten zu interessieren beginnt.


Buchhinweis:
Hohe Berge - Enges Tal  Die Geschichte meiner Vorfahren zurück bis zu den rätischen Walsern und deren Ahnen aus dem Oberwallis. Von Gian Trepp, Fr 29.-. Zu beziehen bei amazon.de.


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