Montag, 14. Mai 2018

Post-Bergier-Schweizergeschichte

Von der Kolonisierung zur Globalisierung
Weshalb wir die Schweizer Geschichte neu denken sollten. 

Unter diesem Titel veranstalteten das Institut für Geschichte der ETH Zürich, das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) und das Historische Institut der Universität Bern Ende April eine Tagung.

Im Kern der Tagung stand die Frage, wie Gegenwart und Zukunft der Schweiz zu verstehen seien, wenn der globalisierte Zustand des Landes nicht als neues, sondern als historisches Phänomen betrachtet wird. 

Zum konkreten Inhalt der Tagung kann ich mich nicht äussern, da ich leider erst im Nachhinein davon erfahren habe. Zum Titel der Veranstaltung hingegen schon.

Dieser Veranstaltungstitel läutet die Post-Bergier-Schweizergeschichte ein.

Vor gut zwanzig Jahren haben die USA und einige jüdische Organisationen dem Bundesrat die Bergier-Historiker-Kommission aufgezwungen, welche die Geschichte der Schweiz zur Zeit des Dritten Reiches aus der Perspektive moralischer Schuld an Krieg und Holocaust erforschen musste. Und mit ihrer Arbeit zur Weltkriegsgeschichte den Blick auf die Schweizergeschichte seither wesentlich prägte.

Tempi passati. Heute wollen die Historischen Institute von ETH und der Uni Bern, sowie das IZFG die Schweizergeschichte neu denken. Gut so. Der Blick auf die Vergangenheit der Schweiz aus der Perspektive ihrer Einbettung in die Welt, eröffnet neue, zukunftsweisende Einsichten. Viel weiter zurück als bis ins 19. Jahrhundert.

Die Schweiz war nicht erst seit dem 19. Jahrhundert eng mit der Welt verflochten. Das Gebiet der heutigen Schweiz war seit je europäisches Durchgangsland. In der Antike und im Mittelalter hatte der Alpentransit geostrategische Bedeutung für die grossen, alpenüberspannenden Flachlandreiche jener Epochen. Nach der Entdeckung Amerikas schrumpfte dann die Bedeutung des Alpentransits für die grossen europäischen Reiche. Doch die Kapitalakkumulation im Söldnerwesen und aus der Landwirtschaft vermochten den Ertragsausfall im Alpentransits wettzumachen. Und ermöglichte den führenden Familien der Eidgenossenschaft Investitionen in die weltweite Politik europäischer Grossmächte.

Das Leitfossil der Schweizer Geschichte ist nicht der schollengebundene, freiheitsliebende Bauer, sondern der Wegmacher, Säumer, Spediteur, Händler, Söldner und Gschäftlimacher. 

Die Feldforschungen des Berner Hobby-Archäologen, Baufachmannes und Genieoffiziers Jonas Glanzmann zeigen die Erklärungskraft dieses Geschichtsbildes. Glanzmann hat im Emmental die Fundamente zahlreicher, bislang unbekannte Burgen und Wachtürme aus dem Früh- und Hochmittelalter erschlossen, die ihn einen Nord-Süd-Verkehrsweg vom mittleren Aareraum (heutiges Solothurn, Aarau, Olten) durch das Emmental zum Thunersee vermuten lassen, welcher den gelernten Mediävisten und Archäologen bislang verborgen blieb.

Glanzmanns Forschungen zu diesem vergessenen frühen Nord-Süd-Transitweg vom Thunersee in den mittleren Aareraum passen zu meiner unabhängig davon entwickelten These vom vergessenen Kaiserweg Karls des Grossen und des Heiligen Römischen Reiches, einer vergessenen früh- und hochmittelalterlichen Passverbindung  vom Thuner- und Vierwaldstättersee zum Lago Maggiore. (Mehr dazu in meinem neuen Buch "Hohe Berge - Enges Tal", zu beziehen bei amazon.de.)

Drüben bei der NZZ hat unterdessen auch Redaktor Marc Tribelhorn das neue Geschichtsbild der ETH- und Uni-Bern-Historiker begrüsst. Die Schweiz leide nicht an zu viel Geschichte, meinte er in seinem Bericht von der erwähnten Tagung, sondern an zu wenig – und der falschen. Die Schweiz sei weder der Saubermann noch der Bösewicht der Weltgeschichte, sondern eine eine Besonderheit der Geschichte, was mit nüchternem Blick statt mit Selbstgefälligkeit anerkennen werden sollte.

Die monierte Selbstgefälligkeit in der Geschichtsbetrachtung dürfte Tribelhorn wohl vor allem bei nationalkonservativen Historikern wie Markus Somm verorten. (Wer weiss, wenn Eric Gujer so weiterkutschiert wie bisher, wird Somm vielleicht doch noch NZZ-Chef, und damit auch der Chef von Tribelhorn, aber das ist eine andere Geschichte.)

Ob Tribelhorn mit der angeprangerten falschen Geschichte auch das Geschichtsbild des linksliberalen Historikers Thomas Maissen anvisiert, der den nüchternen Blick auf die Schweizergeschichte ebenfalls vermissen lässt, bleibt offen.

Jenem Thomas Maissen, der in seinem 2005 im NZZ-Verlag erschienen Buch "Verweigerte Geschichte" die Schweiz folgendermassen als Bösewicht der Weltgeschichte geisselte: "Die verweigerte Übernahme der universalisierten jüdischen Erinnerung hat mit anderen aussenpolitischen Konflikten der Schweiz vorgeführt, dass der Versuch aussichtslos ist, im Vertrauen auf überlebte Souveränitätskonzepte von marginalen Positionen aus eigene Geschichtsbilder, Werte und Spielregeln in die sich über Kontroversen konstituierende Weltgesellschaft einzubringen, wenn ein Land mehr bleiben will als eine folkloristische Steueroase oder ein historisches Relikt und Zollfreigebiet von Schlage Andorras."

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