Der neue Spielfilm über Paul Grüninger hat die "Weltwoche" vom 9. Januar 2014 zu einer scharfen Attacke provoziert.
Das nationalkonservativ-neoliberale Blatt schreibt, der Streifen sei eine politisch motivierte "Geschichtsklitterung", schwinge "manipulativ" die "Moralkeule" und stelle "einzelne Personen entgegen den verbürgten Fakten in ein schiefes Licht". Damit würden "längst widerlegte Vorwürfe gegen die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg reanimiert".
Ob dieser, vom Schweizer Fernsehen und öffentlichen Geldern finanzierte, millionenteure Historienschinken auch in meiner Einschätzung ein derart übles Machwerk ist, vermag ich selbstverständlich erst zu sagen, nachdem ich den Film gesehen habe.
Einige Bemerkungen zur Geschichte des 1939 fristlos entlassenen und gerichtlich verurteilten St.Galler Polizeikommandanten, der ein halbes Jahrhundert später im Sog des Bergier Berichtes über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg zur Ikone des guten Schweizers avancierte, sind jedoch trotzdem angebracht.
Der Bergier-Bericht war die Frucht ausländischen Druckes auf die Schweizer Regierung. 1995/1996 forderten US-Unterstaatssekretär Stuart Eizenstadt, US-Senator Alfonse d'Amato, der kanadische Milliardär Edgar Bronfman sowie der von diesem finanzierte Jüdische Weltkongress vom Bundesrat zuerst Aufklärung über die nachrichtenlosen Schweizer Konten jüdischer Kunden, die im Holocaust ermordet worden waren. Kurze Zeit später verlangten diese Kreise dann die ganze Wahrheit über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Um diese Warheit herauszufinden, hat der Bundesrat Ende 1996 unter der Führung von Prof. Jean-François Bergier eine politisch korrekt zusammengestellte internationale Expertenkommission installiert. Darin sassen neben vier Vertretern ganz unterschiedlicher politischer Herkunft aus der Schweiz, drei Holocausthistoriker aus Israel, Polen und den USA, sowie ein konservativer britischer Finanzhistoriker einer US-Universität.
Was die Flüchtlingsfrage betrifft, so verlangte der Bundesrat raschmöglichst einen Vorabbericht, der Ende 1998 auch abgeliefert wurde. Der Titel dieses Vorabberichtes charakterisiert das Spannungsfeld, in dem sich ein neues Grüninger Narrativ entfalten konnte.
Der irreführende Titel lautet: "Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Dritten Reiches". Irreführend, weil sich der Text ausschliesslich mit jüdischen Flüchtlingen beschäftigt, die jedoch nur einen kleinen Teil aller von der Schweiz in jenen Jahren aufgenommenen und abgewiesenen Flüchtlinge ausmachten.
Nach
massiver Kritik an Inhalt und Methodik des Vorabberichte produzierte die Bergier-Kommission schliesslich 2002 eine ergänzte zweite Version unter dem neuen Titel "Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus". Beide Versionen beschreiben diese traurige Epoche der Schweizer Geschichte aus der jüdischen Opferperspektive, dem international gängigen Paradigma heutiger Holocaust Erinnerung.
In dieser Perspektive kam es zur Repositionierung des damals bereits jahrzehntealte Falles des St. Galler Flüchtlingshelfers Paul Grüninger.
Linke Kreise aus St. Gallen mit SP-Nationalrat Paul Rechsteiner an der Spitze kämpften dort seit den 1980er Jahren für die Rehabilitation Grüningers, des von der bürgerlichen Kantonsregierung willkürlich entlassenen, und von der (Klassen)Justiz ungerecht sanktionierte Polizeichefs. In diesem Sinne versuchte Rechsteiner damals den linken St. Galler Journalisten Niklaus Meienberg zu einem Grüninger-Buch zu animieren. Weil Meienberg die Kraft dazu nicht mehr aufbrachte, sprang schliesslich Redaktor Stefan Keller von der linken Wochenzeitung WOZ ein. Kellers 1993 erschienenes Buch "Grüningers Fall" reihte sich damals in eine ganze Reihe linkskritischer Darstellungen der bürgerlich regierten Schweiz vor und während des Zweiten Weltkrieges.
Nachdem die Clinton-Regierung und die erwähnten nordamerikanisch-jüdischen Kreise zwei Jahre später ihre Offensive gegen die Schweiz im Zweiten Weltkrieg eröffneten, geriet die historische Figur Grüninger in einen neuen Verwertungszusammenhang. Als indirekter Beweis, dass die offizielle Schweiz viele jüdische Flüchtlinge in den Tod geschickt hatte.
Im neuen Grüninger Narrativ aus dieser Perspektive sind die Umstände und historischen Details dieser Tatsache nicht mehr so wichtig. Ganz besonders in Holzschnitten und Drehbüchern von Grossfilmen. Zweitrangig wird, ob der Judenstempel im Pass eine Idee des damaligen Schweizer Fremdenpolizeichefs Rothmund war oder nicht, ob die offizielle Schweiz 30'000 oder 3000 jüdische Flüchtlinge in den Tod getrieben hat, oder ob sich Grüninger damals für seine Hilfe bei der illegalen Einreise der jüdischen Flüchtlinge hat bezahlen lassen. Was zählt, ist der Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern" von Yad Vashem.
In der kritischen Schweizergeschichte ist das anders, ganz besonders in der investigativen Spielart, wie beispielsweise betrieben vom israelisch-schweizerischen Journalisten Shraga Elam. Grüninger hat 1938 illegal jüdische Flüchtlinge in die Schweiz geschleust und ist dafür zu Recht als gutes Beispiel in die Geschichte eingegangen. Elams Grosseltern aus Bayern konnte er leider nicht retten, Doch beim Forschungsstand der mittlerweilen über 20 jährigen Recherche Stefan Kellers bleibt Elam deshalb nicht stehen. Er stellt weiterhin Fragen, sowohl zum Gang der damaligen Ereignisse als auch zur Rezeptionsgeschichte des Falles Grüninger.
So gibt es denn heute zwei Grüninger Narrative, das vom geheiligen Flüchtlingshelfer und das vom Polizeikommandanten in allen seinen Widersprüchen.