"Ich (Roger Schawinwki) bin mir bewusst, dass ich unvergleichliches Glück hatte. In meinen 68 Jahren habe ich in einem der reichsten Länder der Welt die längste Friedenszeit der Menschheitsgeschichte erleben dürfen. Nie zuvor gab es so vorteilhafte Bedingungen wie für meine Generation, und dies in allen Bereichen (...).
Ermöglicht wurde all dies nicht allein durch unsere eigene Leistung, sondern in erster Linie durch das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte: der EU. Sie hat dem im letzten Jahrhundert so arg geschundenen Kontinent eine in der ganzen Historie nie gekannte Stabilität verschafft. Die Erbfeindschaften zwischen den grossen Nationen, die mehr als einmal unglaubliches Unglück über Europa und die Welt gebracht haben, sind überwunden und haben nachbarschaftlichen Gefühlen Platz gemacht." (Zitat aus der Sonntagszeitung v. 23.2.14)
Wow, hätte nie gedacht, dass ich mich mal öffentlich zum grössten Winner im Kanton vernehmen lasse. (Sorry Roger, Multimillionär und Züribergvilla okay, aber als Medienunternehmer bist du nach Jürg Marquard nur die hiesige Nummer zwei; zu grämen brauchst du dich trotzdem nicht, die Nummer eins ist dafür kein Journalist.)
Zu den folgenden sonntagmorgendlichen Zeilen fühle ich mich bemüssigt, weil ich mit meinen 66 Jahren zur gleichen Generation zähle und vehindern möchte, dass die heutige Jugend Schawinskis falscher Glücksanalyse glauben schenkt.
Dank wem Dank gebührt. Wenn die Schweiz heute eines der reichsten Länder der Welt ist, dann schulden wir dies nicht in erster Linie der EU. Das schulden wir in erster Linie der Schweiz, das heisst unseren Vorfahren, die alles in allem mehr richtig als falsch gemacht haben.
Als alter Dialektiker sage ich der führende Faktor ist der innere Faktor, nicht der äussere.
Den Fehler, die EU als Friedensprojekt zu verabsolutieren teilt Schawinski mit vielen. Dies durchaus auch mit tiefgründigeren Autoren, die ihre Position nicht bloss mit der Methode Klischeeaddition als Analyseersatz unterfüttern. Schawinski: "Das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte", "dem im letzten Jahrhundert so arg geschundenen Kontinent" "eine in der ganzen Historie nie gekannte Stabilität", "Die Erbfeindschaften zwischen den grossen Nationen" "nachbarschaftlichen Gefühlen".
Doch die EU entstand auch als Kriegsprojekt, nämlich als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Stärkung des Westblocks gegen den Ostblock im Kalten Krieg. Als Jean Monnet 1947 die Idee der Allianz der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie entwickelte, der Anfang der heutigen EU, diente dies zum einen der Aufrüstung Westeuropas gegen die Sowjetunion, und zum anderen der Stärkung des europäischen Föderalismus gegen den alten, kriegstreiberischen, deutschen und französischen Nationalismus.
Das bedeutet nicht, dass die Schweiz nicht von der EU profitiert hätte, aber erst in zweiter Linie.
Die vorteilhaften Bedingungen verdankt unsere Generation in erster Linie der Schweiz. Das gilt für Leute wie Schawinski, der sich 1968 vom Judentum seiner Eltern emanzipiert, an die herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Umstände assimiliert, auf den steinigen Weg vom Kreis vier auf den Züriberg machte. (Wenn Schawinski manchmal von sich als 68er spricht, betrifft das nur den Jahrgängerverein, er ist ein Aufsteiger, kein Linker.)
Das gilt auch für Leute wie unsereiner, der sich 1968 vom gewerblich-mittelständischen-Kreisvier-Milieu seiner Eltern emanzipiert, die herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Umstände negiert, auf den steinigen Weg zur gewaltsamen proletarischen Weltrevolution machte. (Der Bruch, der in solchen 68er-Biografien liegt, ist eine andere Geschichte.)
Das Erfolgsmodell Schweiz hat drei Wurzeln. Der Mythos 1291 symbolisiert die gleichberechtigte politische Föderation der Kantone auf der Basis gemeinsamer Werte und Interessen. Die Revolution von 1848 symbolisiert die individuelle und wirtschaftliche Freiheit auf der Basis von Verfassung und Gesetz. Der Generalstreik 1918 symbolisiert die Beschränkung der Allmacht des Kapitals auf der Basis der direkten Demokratie.
Für sich allein genommen, führt heute sowohl die nationalkonservative als auch die neoliberale und die linksrevolutionäre Traditionslinie in die Irre. Die Musik der Zukunft spielt im Dreiklang 1291-1848-1918.
Der Witz liegt im Mix.
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