Im Jahre 515 eröffnete Burgunderkönig Sigismund der Heilige in Saint-Maurice am Nordfuss des Grossen Sankt Bernhards eine Pilgerherberge. Die historischen Umstände dieser Gründung vor 1500 Jahren enthüllen eine bis heute gültige Warheit.
Leider hat die hiesige Historikerzunft das 1500-Jahrejubiläum des ältesten noch existierenden Klosters nördlich der Alpen bislang den gläubigen Katholiken überlassen. Zum grossen Festakt im Wallis kommt vielleicht sogar der Papst.
Kein Wunder, ist man versucht zu sagen, nachdem die hiesigen Universitäten unsere gute alte Schweizergeschichte liquidierten und heute mit vornehmlich deutschem Personal national desodorierte "applied history" betreiben ........ aber ganz im Ernst, die bisherige Geringschätzung des über das Religiöse im engeren Sinn hinaus weisende grossen Schweizer Klosterjubiläums durch hiesige Historikerkreise ist nur zu bedauern.
Morgarten 1315, Aargaueroberung 1415, Marignano 1515 und Wiener Kongress 1815 waren bedeutende aussenpolitische Ereignisse in der Geschichte der Schweiz. Zwei Eidgenössische Siege gegen die Habsburger, eine Niederlage gegen die Franzosen, und eine wohlwollende Behandlung des Kleinstaates Schweiz durch die Grossmächte England, Russland, Preussen und (nicht ganz so wohlwollend) Österreich.
Saint-Maurice 515 hingegen, war ein innenpolitisches Ereignis. Und ergänzt die vier diesjährigen Grossjubiläen insofern ideal. Denn auch die Geschichte der Alpenrepublik Schweiz kann nur im Spannungsfeld innerer und äusserer Kräfte verstanden werden, aussenpolitische Ereignisse allein genügen nicht.
Googeln wir also mal rasch die Ereignisgeschichte des innenpolitischen Ereignisses Saint-Maurice 515:
Gemäss der Legende massakrierte der Römische Kaiser Maximian im Jahre 302 in Saint-Maurice (Lateinisch Acaunus) tausende christlicher Soldaten der vom heiligen Mauritius geführten Thebäischen Legion. Die Märtyrer des letzten grossen römischen Pogroms gegen die Christen hatten sich zuvor geweigert, gewaltsam gegen Glaubensgenossen vorzugehen.
Um 380, nachdem das Christentum zur römischen Staatsreligion geworden war und das nahe Saint Maurice gelegenen Martigny (Keltisch Octodurum, Lateinisch Forum Claudii Vallensium) zum Bischofssitz geworden war, liess Bischof Theodor am Orte des Martyriums des Heiligen Mauritius und der Thebäer eine kleine Kirche bauen.
Neben dieser ersten kleinen Kirche stiftete Altburgunderkönig Sigismund der Heilige 515 die Abtei Saint-Maurice. Diese Stiftung darf als Hinweis auf ein expandierendes Pilgerwesen aus dem Frankenreich und Burgund zum Bischof von Rom gelten.
Hintergrund der Expansion waren das 497 fast gleichzeitig erfolgte Bekenntnis des zuvor arianischen Burgunderkönigs Sigismund des Heiligen, und des zuvor heidnischen Frankenkönigs Chlodwig I. zum Römisch-Katholischen Christenglauben. Mit diesen beiden Übertritten hatte der Bischof von Rom und Pontifex Maximus des katholischen Christentums seinen Kampf gegen die Anhänger der theologischen Lehre des Presbyters Arius aus Alexandrien (250-336) gewonnen.
Arianismus? Da googeln wir am besten noch etwas weiter. Wer kein Interesse an Religionsgeschichte hat, darf den nächsten Abschnitt problemlos überspringen.
Der Arianismus, muss man wissen, war eine frühe Variante des christlichen Glaubens, deren Vertreter sich jahrhundertelang mit den Parteigängern des Bischofs von Rom gestritten haben. Der Beginn des Streites datiert auf das Jahr 312, als Kaiser Konstantin I. nach seinem Sieg über Mitkaiser Maxentius bei der Milvischen Brücke vor Rom das zuvor verbotene und verfolgte Christentum zur Staatsreligion machte. Damals hatte sich die von den Jüngern des Juden Jesus von Nazareths gegründete messianische Sekte von den mosaischen Gesetzen, und damit von den ethnokulturellen Wurzeln im Judentum emanzipiert, ohne jedoch bereits über eine einheitliche christliche Theologie zu verfügen. Umstritten war beispielsweise die sogenannte Trinitätslehre von der Einheit von Gott Vater, Gott Sohn und Heiligem Geist. Den Anhängern der theologischen Lehre des Presbyters Arius aus Alexandrien (250-336) galt die Trinitätslehre als Restbestand römischer Vielgötterei. Weil es nur einen Gott geben darf, müssen Gott, Messias und Heiliger Geist zwingend verschieden sein. Kaiser Konstantin I. versuchte den Theologenstreit auf dem Konzil von Nicäa 325 zu beenden, weil er die staatlich geförderte christlich-römischen Einheitskirche dringend als Klammer seines von Germanen und anderen Barbaren bedrohten Riesenreiches brauchte. Das Konzil von Nicäa bestätigte die heilige Trinität und verwarf den Arianismus als Irrlehre. Allerdings blieben zahlreiche Christen entgegen dem Konzilsbeschluss Arianer. So auch der Gotenbischof Wulfila, der die erste Übersetzung der Bibel in eine germanischen Sprache verfertigte. Im Verlaufe des 4. Jahrhunderts gerieten die Arianer gegen den Bischof von Rom zunehmend in die Defensive. Ein besonders harter Schlag war das von Kaiser Theodosius I. auf dem Konzil von Konstantinopel 381 verkündete Gesetz, wonach alles Eigentum der Kirchen denen gehöre, die an die heilige Trinität glaubten. Trotzdem blieben die bereits christianiserten, jedoch mit Theodosius I. verfeindeten germanischen Könige und Herzöge der Goten, Alamannen, Burgunder und Langobarden der Theologie des Häretiker Arius treu.
Nun wieder zurück zum neukatholischen Burgunderkönig Sigismund der den wachsenden Pilgerverkehr aus dem Reich des neukatholischen Frankenkönigs Chlodwig I. über sein hochburgundisches Saint-Maurice ab 515 professionell bewirtschaftete.
Davon konnte auch die Lokalbevölkerung am Weg vom heutigen Waadtland über das Unterwallis auf die Passhöhe des Grossen Sankt Bernhard und hinunter nach Aosta profitieren. Jobs in der Pilgerherberge Saint-Maurice, Jobs auf den Schiffen am Genfersee, Jobs als Wegmacher und Säumer, und, und, und. Ganz abgesehen von einer Mönchskarriere oder der Klosterschule für die begabten Söhne. (Sorry, aber die Frauen waren in der Spätantike noch nicht emanzipiert.)
All diese Jobs hätte es ohne das spätantike europäische Grossereignis der Installation des Bischofs von Rom als Pontifex Maximus, und der darauf basierenden Gründung der Pilgerherberge von Saint-Maurice durch Burgunderkönig Sigismund nicht gegeben.
Allein - ohne das Wissen, Können und die know-how-intensiven Dienste der Bewohnerinnen und Bewohner an der transalpinen Transitstrecke hätten der heilige Sigismund und die frommen Pilger aus dem Flachland den Weg durch die Gebirgswüsten nicht geschafft.
Wir brauchen sie, sie brauchen uns - diese historische Lehre aus der Gründung der Abtei Saint-Maurice vor 1500 Jahren gilt noch heute.